Ein Taschenmesser ist ein Taschenmesser ist ein Taschenmesser. Oder? In Fontanes 1878 erschienenem historischen Roman Vor dem Sturm gibt es eine Pfänderspiel-Episode, in der von einem monströsen englischen Taschenmesser berichtet wird, das beim Leser sexuelles Assoziationspotenzial freizusetzen vermag.

Fontanes Erstlingsroman spielt im Vorfeld der Befreiungskriege im Winter 1812/13. Das Romangeschehen ist in Berlin sowie an fiktiven Orten im Oderbruch angesiedelt. Doch bevor die Handlung Fahrt aufnimmt, zeichnet der preußische Romancier ein detailreiches Bild des märkischen Landadels und der dörflichen Bevölkerung. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1812 versammelt sich in der Pfarre zu Hohen-Vietz ein Großteil des Romanpersonals. Man vertreibt sich die Zeit mit dem beliebten Pfänderspiel „Alles, was fliegen kann, fliege hoch“. Der joviale Justizrat Turgany philosophiert bei dieser Gelegenheit über die Kunst, etwas „dezent Indifferentes“ als Pfand zu wählen: „Ein Batisttuch, ein Notizbuch, ein Flakon, eine Broche dürfen als wahre Musterstücke gelten.“ Freilich weiß Turgany auch von peinlichen Gegenbeispielen zu erzählen:

Ich entsinne mich einer im Embonpointalter stehenden Professorenfrau, die Mal auf Mal ihren Trauring als Pfand vom Finger zog. Erlassen Sie mir, Ihnen das eheliche Glück des Hauses zu schildern. In derselben Gesellschaft befand sich ein Herr, der nicht müde wurde, sein englisches Taschenmesser, zehn Klingen mit Korkzieher und Feuerstahl, in den Schoß der Damen zu deponieren, bis das Klingenmonstrum, nach Zerreißung mehrerer Seidenkleider, endlich vor dem allgemeinen Entrüstungsschrei verschwand.

Theodor Fontane, Vor dem Sturm, Bd. 1, Kap. 14

Psychoanalytisch geschulte Leser werden an dem aggressiv-sexuellen Symbolgehalt des im Schoß der Damen deponierten Riesentaschenmessers und der zerrissenen Seidenkleider ihre Freude haben (vom Korkenzieher und Feuerstahl ganz zu schweigen). Aber vielleicht ist ein Taschenmesser manchmal auch nur ein Taschenmesser.