Die zu Lebzeiten von Max Herrmann-Neiße unveröffentlichte Erzählung Das Taschenmesser ist eine Mischung aus Kafka und Kottan ermittelt: Ein Mann legt sich schlafen, am nächsten Tag findet man ihn tot in seinem Bett mit einem Taschenmesser in der Brust. Doch die Aufklärung des Falls gerät zur Nebensache.

Leider sind die Werke von Max Herrmann-Neiße größtenteils nur noch im antiquarischen Buchhandel erhältlich, so dass man diesen originellen Schriftsteller der Weimarer Republik wohl zu den vergessenen zählen muss. Die Erzählung Das Taschenmesser entstand 1931 und wurde erstmals in der Werkausgabe von Klaus Völker 1987 veröffentlicht. Der nur wenige Seiten umfassende Text ist ein amüsant-parodistisches Spiel mit dem Kriminalgenre.

Der Erzähleinstieg ist durchaus konventionell:

Fünf Minuten vor zwei Uhr nachts putzte er sich mit dem Taschenmesser seine Fingernägel. Nachlässig, wie er war, ließ er das Messer offen auf seinem Schreibtisch liegen. Entkleidete sich, badete, pflegte seine Zähne, zog den Pyjama an, sprach das Nachtgebet, wie er es von Kindheit an gewohnt war, löschte die Lampe. Dachte noch, schon auf der rechten Seite liegend, an ein Geschäft, das ihm heut entgangen war, an die Pläne für den morgigen Tag, fürchtete sich vor dem Gang zum Zahnarzt, wiederholte einen Verdruß mit dem Schreibmaschinenfräulein, immerhin war ihr Busen beachtlich, „Großer Gott, bewahre mich vor Krebs!“ – und schlief schließlich ein.

Am Vormittag des nächsten Tages klingeln mehrere Personen vergeblich an der Tür des Mannes. Einige Mieter des Hauses beschließen, die von innen mit einer Kette verriegelte Tür gewaltsam zu öffnen. Im Ton einer Zeitungsmeldung fasst der Erzähler die Situation zusammen, die die Hausbewohner vorfinden:

Der Kaufmann Gustav Pflanz, sechsunddreißig Jahre alt, Junggeselle, lag in seinem Bett, in seiner Brust steckte sein eigenes Taschenmesser.

Die Lesererwartung, dass die Handlung sich nun in klassischer Whodunit-Manier entfaltet, wird enttäuscht. Vielmehr werden in der Folge typische Versatzstücke des Kriminalgenres zu einer sonderbaren Karikatur dieser Gattung verwirbelt. Zunächst referiert der Erzähler die Reaktionen der Hausbewohner: Der Maler „betrachtete die Sache sogleich von seinem fachlichen Standpunkte aus, entwarf im Geiste ein Gemälde ‚Der Mord‘ und wußte im gleichen Augenblick, daß er es nicht zustandebringen wörde.“ Die Portiersfrau kommentiert die Szene mit berlinerischer Lakonie: „Der macht keene Männchen mehr!“ Und die Aufwärterin des toten Kaufmanns bekommt einen hysterischen Anfall und schluchzt: „Heut sollte ich ihm Flockensuppe, Brisoletten und Apfelmus machen!“

Der Maler ruft schließlich die Polizei an, kurz darauf treffen mehrere Kriminalbeamte und ein Arzt ein.

Die Untersuchung spielte sich in zuvorkommenden Formen ab. Der Arzt hatte nicht viel zu bestellen, bestätigte, was man längst wußte, den Tod von Gustav Pflanz, und daß das Taschenmesser die unmittelbare Ursache davon sei. Die Aufwärterin bezeugte, daß sie das Taschenmesser oft bei ihm beobachtet hatte, wenn er sich die Fingernägel damit säuberte. Der Arzt mißbilligte diese primitive Art von Körperpflege.

Die Aufklärung der ungewöhnlichen Todesumstände gerät danach vollends aus dem Blick, der Kommissar interessiert sich mehr für den Maler: „Nischt Verbotnes gemalt? Nackichte Sachen und so?“ Gleichsam ein Klischee der späteren Kriminalromane von Chandler und Hammett vorwegnehmend, erscheint völlig unvermittelt eine rätselhafte Frau auf dem Plan: „Plötzlich stand eine verschleierte Dame im Zimmer.“ Allerdings meldet sich genauso plötzlich und unvermittelt der Erzähler zu Wort und problematisiert den Erzählvorgang selbst: „Niemand wußte, wie sie hereingekommen war, abgesehen davon, daß die Verschleierung wie ein überflüssiger, äußerst literarischer Effekt wirkte. Das heißt, wahrscheinlich nur auf mich, den Erzähler der unglaubwürdigen Geschichte, nachträglich so wirkt.“

Nachdem der Erzähler die Unglaubwürdigkeit seiner Geschichte eingestanden hat, sind alle Schranken der Logik und Wahrscheinlichkeit gefallen, so dass der Weg frei ist für die bizarre Geschlechterverwirrung, die nun folgt: Der Kommissar, der die verschleierte Frau kennt, redet sie mit „Herr Lydia“ an und bittet sie, ihm aufs Revier zu folgen. Lydia antwortet dem Kommissar mit der Anrede „liebe Anna“. Die die Hausbewohner (und auch den Leser) verwirrende Unterhaltung zwischen Anna und Lydia gipfelt schließlich in der Anweisung des Kommissars an den Arzt: „Stellen Sie bitte das Geschlecht dieser Person fest, Herr Dr. Preissler!“ Unter Protest („Hast du das nötig, Anna?“) lässt sich Lydia vom Gerichtsarzt ins Nebenzimmer führen.

Nach dieser irritierenden Zwischenepisode wechselt die Erzählung ins Präsens und kehrt zum toten Kaufmann Gustav Pflanz zurück. Auf der Motivebene ergibt sich sogar ein zyklischer Aufbau: Das Gähnen des Kommissars verweist auf die Einschlafsituation am Anfang, und das Motiv des Fingernägelputzens verbindet Eingangs- und Schlusssatz.

Der tote Kaufmann Gustav Pflanz liegt in seinem Bett, in der Brust steckt sein eigenes Taschenmesser.

Der Kommissar, der jetzt mit dem Leichnam allein im Zimmer ist, zieht das Taschenmesser heraus. Er betrachtet es eingehend und säubert es.

Es ist sehr still im Haus, im Badezimmer nebenan tropft der Hahn.

Der Polizeimensch gähnt und beginnt sich mit dem Taschenmesser des Kaufmanns Gustav Pflanz automatisch die Fingernägel zu putzen.