In Prousts berühmter Madeleine-Episode lässt der Geschmack eines in Tee getauchten Gebäcks einen ganzen Kosmos aus der Erinnerung wiedererstehen. Die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) hat eine ähnliche Erinnerungsszene festgehalten, in der ein Taschenmesser die Schlüsselrolle spielt.
Marie von Ebner-Eschenbach schildert in ihrer autobiografischen Skizze Meine Kinderjahre (1906 erstmals in Buchform erschienen), wie das Taschenmesser ihres Vaters dessen Erinnerung an Krieg und Gefangenschaft unter Napoleon wachruft. Zur Vorgeschichte: Ihr Vater Franz Baron Dubský, in österreichischen Diensten stehend, wurde bei einem Gefecht mit Napoleons Truppen in der Nähe von Cléry schwer verwundet. Bewusstlos auf dem Schlachtfeld liegend, wurde er ausgeplündert und überlebte nur knapp. Maries Vater wurde mit anderen Gefangenen in die Normandie transportiert, auf dem Weg dorthin schenkte ein barmherziger Franzose dem Verletzten einen blauen Mantel.
Die Gefangenen kamen am Hauptquartier Napoleons vorbei. Sie sahen den Imperator. Er war zu Pferde, sehr blaß, prachtvoll sein Cäsarengesicht, die Gestalt schwer und aufgedunsen. Mit einigen der Unglücklichen im Zuge sprach er und ließ ihnen Geld reichen. Mein Vater erhielt dreihundert Francs, die ihm sehr zugute kamen während seiner Internierung in Caen. Dort fand er sich vortrefflich aufgehoben bei einem braven alten Ehepaare. Auch für diese beiden Leute hegte er eine unaussprechliche Dankbarkeit und konnte die soupe à l’oignon nicht genug loben, die zu kochen seine Hausfrau verstand. Als seine Wiederherstellung fortschritt und er auch feste Nahrung zu sich nehmen durfte, kaufte er ein Messer, mit dem er Brot in die Suppe einschnitt, ein großes Taschenmesser mit grauer Hornschale und mehreren Klingen. Es hat immer auf seinem Schreibtisch gelegen, und man brauchte es nur mit der Fingerspitze leise anzutippen und zu sagen: „Nicht wahr, Papa, das hast du in der Normandie gekauft?“ Alsbald waren die alten Erinnerungen alle geweckt, und er ließ sie vor uns aufsteigen in deutlichen, farbigen Bildern. Wir sahen den Hauptmann Dubsky für tot auf dem Kampfplatz bei Cléry liegen, sahen die Marodeure herankommen, die ihn ausplünderten und ihn ganz tot gemacht hätten, wenn er nicht auf einige Worte, die sie an ihn richteten, in ihrer Sprache geantwortet hätte. „Laisse le vivre, il parle français“, sagte einer zum andern. Dann wurde er auf einen Wagen gehoben und fortgeführt in Feindesland. – Oh, wie litten wir mit ihm und sorgten jedesmal von neuem, daß es ihm nun schlecht ergehen werde! Aber bald kam trostreich der blaue Mantel zum Vorschein und imponierend der Anblick des Kaisers Napoleon und endlich zur Erquickung die soupe à l’oignon.
Marie von Ebner-Eschenbach, Meine Kinderjahre