Ein Schwarzwälder Schinken darf nur als solcher bezeichnet werden, wenn er im Schwarzwald verarbeitet und verpackt wurde – die Schweine dürfen allerdings auch in Schleswig-Holstein gemästet worden sein. Für Champagner gelten strengere Vorschriften: Nur Schaumweine, deren Beeren nach strikten Regeln in dem klar abgegrenzten Gebiet der Champagne angebaut und gekeltert wurden, dürfen sich Champagner nennen. Und die Scotch Whisky Association trumpft mit einem Regelwerk auf, das an Komplexität seinesgleichen sucht.
Von solchen Regelungen können die Hersteller von Laguiole-Messern nur träumen: Ein Laguiole kann bekanntlich in China oder Pakistan hergestellt worden sein und darf trotzdem unter dem berühmten Ortsnamen verkauft werden. Aber was macht heute die Authentizität eines Laguiole-Messers aus? Ist das Adjektiv „authentisch“ in diesem Zusammenhang überhaupt ein sinnvolles Beschreibungsmerkmal? Hier lohnt ein Blick in die Geschichte.
Ein Ortsname als Marke
Das weltberühmte Messer verdankt seinen Namen dem Dorf Laguiole, das auf dem Hochplateau des Aubrac im südwestlichen Zentralmassiv gelegen ist. Dort siedelten sich im frühen 19. Jahrhundert die ersten Messerschmiede an. Als Erfinder des neuartigen Klappmessers gilt der 1813 geborene Pierre Jean Calmels.
Die Aubrac-Messerschmiede und ihre Nachfahren versäumten es jedoch, das immer beliebter werdende Messer rechtzeitig vor Nachahmern zu schützen. Im Jahr 1993 düpierte der gewitzte Geschäftsmann Gilbert Szajner die komplette Gemeinde Laguiole, indem er – ohne Wissen der Einwohner – den Ortsnamen als Marke eintragen ließ. Fortan konnte Szajner die Marke „Laguiole“ legal an in- und ausländische Hersteller von Messern, Möbeln, Spielzeug, Kleidung und anderen Produkten lizenzieren. Wollte ein ortsansässiger Gastronom eine Käseplatte nach seinem Heimatdorf benennen, musste er Lizenzgebühren zahlen.
Die Gemeinde klagte gegen Szajner, der Rechtsstreit zog sich über mehrere Jahre hin. Im September 2012 kam es zu einer medienwirksamen, aber letztlich vergeblichen Protestaktion: Der Bürgermeister und einige Einwohner von Laguiole – darunter der berühmte Sternekoch Michel Bras sowie Thierry Moysset, der Chef der Manufaktur Forge de Laguiole – montierten die Ortschilder ihrer Gemeinde ab, um auf den Namensraub aufmerksam zu machen. Ein Pariser Berufungsgericht bestätigte jedoch am 4. April 2014 in einem abschließenden Urteil die Gültigkeit der Markeneintragung und bürdete dem Dorf Laguiole zudem die nicht unerheblichen Anwalts- und Gerichtskosten auf. Das Unternehmen Forge de Laguiole setzte die juristische Auseinandersetzung auf europäischer Ebene fort und erreichte im April 2017 immerhin, dass es den Namen „Laguiole“ lizenzfrei für seine Schneidwaren verwenden darf.
Laguiole vs. Thiers
Doch der Streit um die Nutzung des Namens dreht sich nicht nur um die Abwehr der Billigimporte aus Asien. Schon im 19. Jahrhundert enststanden in Nachbarorten wie Saint-Urcize oder Espalion Familienbetriebe, die sich ebenfalls der Fertigung der praktischen Taschenmesser widmeten. Und um der rasch steigenden Nachfrage zu begegnen, begannen die Messerschmiede aus dem Aubrac gegen Ende des 19. Jahrhunderts, Teile der Produktion in die rund 200 Kilometer entfernte Stadt Thiers auszulagern, die seit Jahrhunderten über eine gut organisierte Schneidwarenindustrie verfügte (und bis heute verfügt).
Die Manufakturen in Thiers erkannten schnell das lukrative Potenzial der Messer und drängten mit eigenen Modellen auf den Markt. Damit war der Grundstein für die bis heute andauernde Rivalität zwischen Laguiole und Thiers gelegt. Die gegenwärtige Situation ist vertrackt: Während die Manufakturen in beiden Orten einhellig der Meinung sind, dass man sich gegen asiatische Importware schützen müsse, besteht jedoch keine Einigkeit über die Verwendung des Namens „Laguiole“. Ist er eine geografische Angabe, die nur von den heute in Laguiole ansässigen Herstellern verwendet werden sollte? Oder ist der Name ein Synonym für einen Messertypus, an dessen Erhaltung und Weiterentwicklung mehr als nur ein Dorf beteiligt war?
Die Gründung der Forge de Laguiole
Als Regionalpolitiker und Messerenthusiasten sich Mitte der 1980er-Jahre darum bemühten, die Produktion der berühmten Klappmesser am Ursprungsort wiederzubeleben, war dies nicht nur ein wirtschaftliches Wagnis, sondern auch ein kulturelles Experiment. Die großen Namen und traditionellen Familienbetriebe des 19. Jahrhunderts waren längst erloschen, und der Höhepunkt der lokalen Messerproduktion lag viele Jahrzehnte zurück. Auch wenn das 1987 ins Leben gerufene Unternehmen Forge de Laguiole sich heute allem Anschein nach in der Erfolgsspur bewegt, war die Renaissance der Messerproduktion in Laguiole nicht frei von Problemen. Zwanzig Jahre nach der Gründung wurde die Forge von Christian Valat aus wirtschaftlicher Not gerettet. Inzwischen hat Christian Valat seine Mehrheitsbeteiligung an die Schweizer Unternehmensgruppe FLH Brands verkauft. Regionale Authentizität lässt sich offenbar nicht immer mit regionalem Kapital finanzieren.
Die Forge de Laguiole ist sozusagen ein Traditionsunternehmen aus der Retorte, dem etwas künstlich Gewolltes anhaftet und das sich seinen Gründungsmythos aus dem 19. Jahrhundert borgen musste. Trotz seiner Retortengeburt reklamiert das Unternehmen heute für sich, die einzig wahren Laguiole-Messer („un vrai couteau Laguiole“) zu fertigen. Schließlich – so die Argumentation – sei die Forge die einzige ortsansässige Manufaktur, die den kompletten Produktionsprozess vom Schmieden der Klingen und Federn bis zur Montage der Messer abdecke.
So einleuchtend dieses Alleinstellungsmerkmal klingt, so schnell verliert es jedoch an Überzeugungskraft, wenn man es im historischen Zusammenhang betrachtet. Als die Messerschmiede in Laguiole gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre ersten Aufträge nach Thiers vergaben, wurden bereits die Weichen für einen arbeitsteilig organisierten Produktionsprozess gestellt. Damals wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, dem Laguiole-Messer die Authentizität abzusprechen, nur weil dessen Komponenten in einer anderen Region Frankreichs gefertigt wurden.
So verständlich das Bestreben der Forge ist, das Label „fabriqué à Laguiole“ als starkes Marketingargument und Abgrenzungsmerkmal gegenüber Mitbewerbern zu behaupten, so unverrückbar ist jedoch auch die Tatsache, dass renommierte Manufakturen in Thiers eine ganz eigene Fertigungstradition begründeten und das Laguiole-Messer nach dem Ersten Weltkrieg vor dem historischen Vergessen bewahrten. Ironischerweise stammten die ersten Maschinen und Werkzeuge, mit denen in Laguiole in den 1980er-Jahren wieder Messer produziert wurden, aus der Konkursmasse eines Betriebes aus Thiers.
Der Mythos des Authentischen
Wer heute ein Laguiole-Messer kauft, sollte sich vor Augen halten, dass die – ganz gleich von welchem Hersteller oder Händler – behauptete Authentizität nur ein verkaufsförderndes Narrativ ist. Wollte man in der Herstellung kategorisch zu den Anfängen zurückkehren, müsste man in letzter Konsequenz auch auf elektrisch betriebene Maschinen verzichten. Und da das Laguiole ursprünglich ein Arbeitsmesser und kein prestigeträchtiges Statussymbol war, müssten sich die heutigen Käufer mit einer äußerst bescheidenen Verarbeitungsqualität begnügen.
Die immer wieder ins Feld geführten Merkmale, an denen man angeblich ein authentisches Laguiole-Messer erkennen könne, sind historische Versatzstücke, die verschiedene Entwicklungsstufen des Messers repräsentieren, wie man bei Christian Lemasson nachlesen kann: Die ersten Laguioles mit den heute üblichen Yatagan-Klingen kamen erst um 1860 auf, zwanzig Jahre später entstanden die beliebten Verzierungen der Feder und der Mouche, die berühmte Biene gibt es seit 1908/1909, und das mit religiöser Romantik anekdotisierte Schäferkreuz lässt sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg nachweisen. Welches Laguiole aus der nunmehr fast zweihundertjährigen Geschichte des Messers soll also eigentlich das authentische sein?
Authentizität lässt sich nicht auf eine Checkliste mit vermeintlichen Erkennungsmerkmalen reduzieren, über die Qualität eines Laguiole-Messers sagen sie ohnehin nichts aus. Auch die beliebten Zertifikate, mit denen dem Käufer das wohlige Gefühl suggeriert wird, ein „Original“-Laguiole erworben zu haben, sind letztlich nur Ausdruck und Mittel einer kommerzialisierten Nostalgie. Die Situation erinnert an das Bemühen, alte Musik auf historischen Instrumenten aufzuführen. Von Gegnern dieser Bewegung wird immer wieder das – nicht von der Hand zu weisende – Argument vorgebracht, dass sich die Akustik unserer Konzertsäle und unsere Hörgewohnheiten schließlich auch weiterentwickelt hätten und somit das historische Musikerlebnis nicht reproduzierbar sei. Außerdem waren Komponisten wie Bach und Beethoven mit den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten oft unzufrieden und sehr an Innovationen im Instrumentenbau interessiert. Aus vergleichbaren Gründen bleibt auch ein authentisches Laguiole-Messer eine Fiktion. Lebte Pierre Jean Calmels noch, würde er heute vielleicht auch Laguioles mit Klingenstopp, Rückenverriegelung und Carbonschalen bauen.
Für die Sehnsucht nach dem Authentischen bietet das Laguiole-Messer eine wunderbare Projektionsfläche. Es vermittelt die Illusion, man könne in der heutigen globalisierten Welt noch etwas unverfälscht Echtes und Ursprüngliches erwerben. Genau diese Sehnsucht bedienen die in Laguiole ansässigen Händler, die den jährlich durchreisenden Touristen ein Stück Authentizität verkaufen, das letztlich nur ein Souvenirartikel ist.
Als Abgrenzung gegenüber ausländischen Billigimporten bedarf es nicht der Kategorie des Authentischen, dafür reichen handwerkliche Qualitätskriterien aus, wie sie für jedes gute Taschenmesser gelten. Eine geografische Abgrenzung ist ebenfalls sinnvoll, aber sie sollte sich nicht an den Dorfgrenzen von Laguiole orientieren, sondern an den historisch bedeutenden Produktionsstätten des Laguiole-Messers, zu denen nun einmal auch Thiers gehört.